„Ich habe das gefunden, was ich kann“

„Jannik! Jannik!“  „Ich glaub et net!“ „Der Hippie ist wieder da!“  In Sekundenschnelle ist Jannik Triesch umringt. Einige klopfen ihm auf die Schulter. Andere strecken ihm die Handfläche zum „High Five“ entgegen. Wieder andere zeigen erstaunt auf seine langen Haare, die er nun hinten am Kopf zusammengebunden hat.  In der Werkstatt in Flammersbach hat man den 21-Jährigen nicht vergessen. Dort befindet sich seine alte Wirkungsstätte. Seine alte Gruppe.
Anderthalb Jahre ist es her, dass der Haigerer dort gearbeitet hat. Zunächst im Berufsvorbereitenden Sozialen Jahr (BSJ), danach als Aushilfskraft. Mittlerweile lernt er Heilerziehungspflege an der Deutschen Angestellten-Akademie (DAA) in Gießen und befindet sich im Anerkennungspraktikum: Darin betreut er im Schichtdienst vier Autisten in einer Wohngemeinschaft, von denen keiner sprechen kann. Mit fremdaggressivem Verhalten wird der Haigerer dort oft konfrontiert. Klingt schwierig. Ist es auch, wie Jannik Triesch gesteht. Dennoch geht er in dieser Arbeit auf. Mehr noch: Er liebt sie.

Das hätte er sich anfangs nicht träumen lassen. Mit 16 Jahren endete seine Laufbahn an der Haigerer Johann-Textor-Schule. Was dann? „Eigentlich wollte ich immer in die Musik gehen, das ist mein großes Hobby“, erklärt er. Schlagzeug, Gitarre und Bass spielt er. Singen kann er auch. Aber auch das Handwerkliche liegt ihm. Dennoch entschied er sich zunächst für ein BSJ bei der Lebenshilfe Dillenburg. Ohne recht zu wissen, ob ihm das gefallen könnte. „Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukommt“, gesteht er. „Zu Menschen mit Behinderung hatte ich vorher noch keinen Kontakt.“

“Ich war vorher eher so der Rebell-Junge”

Die ersten Wochen in der Werkstatt in Flammersbach empfand er als anstrengend. „Ich war anfangs mit der Situation schon ein wenig überfordert“, erinnert er sich. „Alles war fremd und neu und, ohne das Gefühl zu haben, richtig viel geleistet zu haben, war ich abends total platt.“  Doch schnell fühlte  er sich zum Team zugehörig, entwickelte ein Gespür für die Menschen, lernte jeden Tag dazu – insbesondere von denjenigen, die er betreute: „Was wir von Menschen mit Behinderung lernen können, ist zum einen ihre unglaubliche Freude am Leben: ihre Freude an den kleinen Dingen, die für uns selbstverständlich sind. Zum anderen können wir uns von ihnen viel in Sachen Dankbarkeit abschauen. Dankbarkeit für alles, was sie neu dazu lernen.“

Die Zusammenarbeit mit den behinderten Menschen veränderte ihn. „Ich war vorher eher so der Rebell-Junge“,  sagt er. „Die Zeit als BSJler hat viel mit mir gemacht.“ Das bestätigen auch Werkstattleiter Jörg Borutta und Gruppenleiterin Tatjana Brückmann. „Während seiner Zeit hier hat Jannik sehr viel Engagement entwickelt“, bescheinigt ihm Jörg Borutta. „Es scheint, als habe er sich dabei selbst entdeckt.“  Dem pflichtet Tatjana Brückmann bei: „Er hat hier enorm an Reife gewonnen und ist an sich selbst gewachsen. Unsere Gruppe war damals unterbesetzt, und  Jannik hat mich durch seine Arbeit sehr entlastet.“

Damals war Jannik Triesch noch gar nicht klar, dass die Erfahrung mit behinderten Menschen für ihn wegweisend sein würde. Er begann ein Studium zum Tontechniker, brach es jedoch ab, als er merkte, dass es nicht das Richtige für ihn war. Danach hatte er einen Ausbildungsplatz als Raumausstatter sicher, entschied sich jedoch dagegen, als er eine Zusage von der DAA bekam. In diesem Moment wurde ihm bewusst,  dass „ich in der Arbeit mit behinderten Menschen das gefunden habe, was ich kann – und was mir unglaublichen Spaß macht“. In seiner Freizeit befasst er sich mit einem Herzensprojekt: Sein Plan ist es, einen niederländischen Lehrfilm über Palliativmedizin auf Deutsch mit geistig behinderten Menschen nachzusynchronisieren.

Und wenn er Urlaub hat, zieht es ihn immer mal wieder in die Flammersbacher Werkstatt. Zurück zu seinen „alten Freunden“, wie er sagt.
Einer von ihnen ist Hans Salmen. Sie spielen ihr altbekanntes Spiel. „Hans, nie weißt du, wie ich heiße“, scherzt Jannik Triesch mit gespielter Empörung. „Komm, versuch’s mal auszusprechen. Jannik. Jan-nik.“
Hans Salmen schüttelt nur den Kopf. „Nein, nein. Geht nicht.“
„Jan-nik.“
Wieder Kopfschütteln. „Schaff nicht.“ Dann grinst er schelmisch. „Sage lieber Blondie zu dir.“