“Sie ist ein Geschenk”

Die regenbogenfarbenen Tücher sausen durch die Luft. Sie tanzt. Dreht sich um die eigene Achse. Erst wollte sie Helene Fischer auflegen. Die mag sie sehr. Dann entschied sie sich doch für brasilianische Klänge. Ruth Hörner liebt das Tanzen. Doch das ist nur eines ihrer vielen Hobbys. Die 26-Jährige schwimmt, reitet, spielt Gitarre und Keyboard, kegelt. Sie spielt aber auch gern mit ihrer Barbie. Die heißt Clara. Und sie mag die Geschichten von „Hanni und Nanni“. Lesen kann sie die Bücher aber selbst nicht. Ruth Hörner hat das Down-Syndrom.  Auf Menschen wie sie macht der Welt-Down-Syndrom-Tag (21. März) aufmerksam.

Das morgendliche Aufstehen fällt ihr schwer. „Nur ein bisschen noch. Nur ein kleines bisschen noch“, bettelt sie. Aber dann schlägt sie doch die Bettdecke beiseite. „Die anderen brauchen mich schließlich“, sagt sie. Dann  lächelt sie, und ihre blau-gesprenkelten Augen leuchten. Der Bus holt sie ab und bringt sie nach Flammersbach in die Werkstatt der Lebenshilfe Dillenburg. Seit September 2006 arbeitet sie dort. Vorher besuchte sie zunächst zwei Jahre die Budenbergschule in Haiger, danach die Dillenburger Otfried-Preußler-Schule.

In der Werkstatt: Gesprächsfetzen und Lachen übertönen das Zischen und Klappern der Maschinen. Nach wenigen Stunden hat Ruth bereits drei gelbe Kisten gefüllt. Sie arbeitet schnell. Setzt den Hebel der Maschine  in Bewegung. Klick. Wieder eine kleine schwarze Schiene mit einem blauen Aufsetzer versehen. „Ich bin froh, dass ich hier arbeite“, sagt Ruth. „Ich liebe meine Freunde hier. Eva?“  Sie blickt in das Gesicht auf der anderen Seite des Tisches.  „Du bist eine wundervolle Freundin.“ Eva grinst.

Down-Syndrom; Lebenshilfe; Dillenburg

Feierabend. „Tschüss, Ruth.“ „Mach’s gut, Ruth.“ „Bis morgen.“ In der Masse entdeckt Ruth einen jungen Mann im Rollstuhl. Sie eilt zu ihm hin und drückt ihm einen Kuss auf den Mund. „Das ist Benni“, erklärt sie. „Wir sind ein Paar. Irgendwann werde ich ihn heiraten.“ Dann erzählt sie, dass Benni schon einmal ein Lied für sie gesungen hat. Der Titel: „Liebe tut der Ruth gut“.  „Als er das gemacht hat, sah mein Gesicht aus wie ein roter Ballon“, verrät sie.

Ruth nimmt am Down-Sportlerfestival in Frankfurt teil

Benni spielt in der integrativen Band der Lebenshilfe Dillenburg, „Alles inklusive“. Er kennt große öffentliche Auftritte. Auch Ruth möchte nun vor großem Publikum zeigen, was sie kann. Beim ersten Talentwettbewerb des Down-Sportlerfestivals, das am 25. April in Frankfurt stattfindet.  Sie will  ein Tanz-Video einreichen – und bei der Abstimmung, die darüber entscheidet, wer sein Können auf der Bühne zeigen darf,  „180 000 Stimmen bekommen – mindestens“. „Ich bin immer wieder fasziniert davon, wie Ruth Musik in Bewegung umsetzt“, sagt Pflegevater Eberhard Lehr. „Überhaupt überrascht mich ihr musisches Talent immer wieder aufs Neue. Wenn sie ein Lied nur zwei- oder dreimal hört, kann sie den gesamten Text auswendig.“ Ruth greift nach seiner Hand. „Papi, ich hab dich lieb.“

Down-Syndrom; Lebenshilfe; Gedenktag; Dillenburg

Mit vier Geschwistern ist Ruth aufgewachsen. Heute leben sie  in Tansania, in Brasilien, in der Pfalz und in Dillenburg. Ruth hat mittlerweile vier Nichten, die ihr „Tante Ruthchen“ heiß und innig lieben. Auch die 26-Jährige  wird irgendwann das Elternhaus verlassen. Geplant ist, dass sie in ein Wohnheim der Lebenshilfe zieht. Am besten gemeinsam mit ihrem Benni. Wie es ist, in einem Wohnheim zu leben, hat sie schon erlebt, als ihre Pflegeeltern im Urlaub waren. „War gut.“

Wie viele andere Down-Syndrom-Kinder ist auch Ruth mit einem Herzfehler auf die Welt gekommen. Doch das Loch in der Herzscheidewand wuchs zu, so dass ihrer Familie  großes Bangen um die Gesundheit des Pflegekindes erspart wurde. „Dafür sind wir auch sehr dankbar“, betont Eberhard Lehr. Ebenso dankbar wie für jeden einzelnen Tag mit Ruth. „Sie ist von Gott gewollt, sie ist ein Geschenk“, sagt er. „Wir wollen anderen Familien Mut machen. Natürlich ist es so, dass ein Kind mit Down-Syndrom eine besondere Aufmerksamkeit erfordert. Aber sie gibt uns alles hundertfach zurück. Ihre Fröhlichkeit ist so schön. So ansteckend.“
„Und ich schmuse gern“, sagt Ruth.
„Aber manchmal hast du auch schlechte Laune. Oder?“
„Ja, manchmal. Aber Papi… Das  ist doch normal.“