„Ohne Du kein Ich“

Was am Anfang gesät wird, erntet man später in der Pubertät.“ Wie viel Wahres in dieser Aussage steckt, hat Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin Mechthild Sckell aus Hanau am Dienstagabend im Kinderzentrum der Lebenshilfe Dillenburg in Burg ihren rund 80 Zuhörern vermittelt. „Ohne Du kein Ich“ – so der Titel des Fachvortrags, einer von zahlreichen Veranstaltungen im Jubiläumsjahr zum 50-jährigen Bestehen der Lebenshilfe Dillenburg.
Nicht belehrend und mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit Humor, Verständnis und Alltagsnähe erklärte die Leiterin der Familienberatungsstelle im Albert-Schweitzer-Kinderdorf Hanau den Besuchern in der Mehrzweckhalle die weitreichende Bedeutung von Bindung.  Bindung ist nicht mit Beziehung gleichzusetzen, auch nicht mit genetischer Verwandtschaft. Sie geht weiter. Sie wirkt tiefer.

“Bindung ist das gefühlsgetragene Band, das eine Person zu einer anderen spezifischen Person anknüpft und das sie über Raum und Zeit miteinander verbindet”, zitierte Sckell den britischen Kinderarzt John Bowlby.  Mindestens eine Bindung dieser Art braucht der Mensch, um durchs Leben zu kommen, so Sckell weiter. „Wenn man einige aufzählen kann, dann geht es einem schon richtig gut.“
Die emotionale Bindung ist insbesondere in den ersten drei Lebensjahren entscheidend für die Entwicklung eines Kindes.  Psychische Auffälligkeiten rühren später oft daher, dass Kinder nicht gut an ihre Eltern gebunden sind.  Die Referentin verglich diese Bindung mit dem Fundament eines Hauses. Ist dieses stabil gebaut, übersteht es so manchen Sturm des Lebens. Ist es instabil, kann das Haus leicht ins Wanken geraten.

“Fremdeln ist klasse!”
 
Um diese Bindung zum Kind aufzubauen, braucht es vor allem eins: Feinfühligkeit. Dazu gehört nicht nur, die Signale des Kindes wahrzunehmen, sondern sie auch richtig zu deuten und angemessen und prompt zu befriedigen. Bestes Beispiel: Das Baby liegt in seinem Bettchen und schreit.  „Lass es schreien, dabei entwickeln sich die Lungen.“  Diesen Satz hat vermutlich jede Mutter schon einmal als gutgemeinten Ratschlag gehört. Und doch ist genau das fatal, wie Sckell erklärt: „Denn das, was in solchen Momenten beim Kind ankommt, ist: Wenn es mir schlecht geht, gibt es keinen, der mich hält.“  Ein Kind im ersten Lebensjahr kann nicht warten, es kennt keinen Bedürfnisaufschub.  Es braucht Reaktionen.
Diese Reaktionen drücken sich in Sprache, Blick- und Körperkontakt aus. „Sprechen Sie mit Ihrem Kind, lächeln Sie es an, nehmen Sie es in den Arm – umso stärker wird es die Welt explorieren“, rät die zweifache Mutter.  „Und wenn Ihr Kind fremdelt, machen Sie sich nichts draus. Fremdeln ist klasse!  Es ist ein Zeichen dafür, dass Sie als Bindungsperson alles richtig gemacht haben.“

Gerade bei Kindern im sogenannten „Trotzalter“ sei es wichtig, diese Feinfühligkeit nicht aus den Augen zu verlieren. Selbst wenn das Kind wütet, heult, um sich schlägt – „halten Sie den Körperkontakt, auch wenn das Kind sie wegschubst. Kennen wir es nicht von uns selbst am besten: Wenn ich dich am wenigsten verdiene, brauche ich dich am meisten. Daran sollten wir denken, dann verstehen wir unser Kind auch besser.“

Weiterhin sei es ratsam, Gefühle offen anzusprechen. Etwa ein „Da warst du aber wirklich wütend auf mich, oder?“ sei wirkungsvoller, als das Kind auf sein Zimmer zu schicken.  „Keiner will weggeschickt werden, wenn er sauer ist“, betont die Diplom-Psychologin.  „Stellen Sie sich vor, sie würden mitten im Streit zu ihrem Partner sagen: ,Du gehst jetzt ins Schlafzimmer und kommst erst wieder zurück, wenn du dich abgeregt hast.‘ Wie würde der wohl reagieren?“

Medien sind eine große Gefahr für die Bindung

Medien stellen laut Sckell eine große Gefahr für die Bindung dar. Zu oft ist der Blick auf das Handydisplay gerichtet anstatt auf das Kind. Wichtig ist deshalb: Qualitätszeit. Intensives Spielen – „und keiner chattet, und keiner schaut RTL dabei“.

Trotzdem sei es wichtig, sich selbst und die eigenen Bedürfnisse als Eltern nicht aus den Augen zu verlieren. Denn dem Kind geht es nur gut, wenn es den Bindungspersonen gut geht. Nur dann können sie der „sichere Hafen“ für ihr Kind sein.

In der anschließenden Diskussionsrunde beantwortete die Expertin noch zahlreiche Fragen der Besucher – unter anderem zum Thema „Wie lange darf unser Kind im Elternbett schlafen?“. Eine Frage, die sich fast von selbst erklärt, wie Sckell schmunzelnd entgegnete: „Kinder mit einer gesunden Bindung gehen irgendwann ganz von selbst. Also genießen Sie es, solange es noch so ist.“