Typen wie „Rain Man“. Hochbegabte Genies irgendwie. Oder solche, die zurückgezogen in ihrer Welt leben. Menschen ohne Emotionen. Es gibt so vieles, das über Menschen mit Autismus gedacht, gesagt, vermittelt wird. Vieles davon sind Klischees. Der Welt-Autismus-Tag (2. April) macht auf die neurologische Entwicklungsstörung aufmerksam.
Rainer von der Beck steht vor dem Spiegel und fährt sich mit der Hand durchs rote Haar. 50 Jahre alt wird der großgewachsene Mann in diesem Jahr. „Aber kaum graue Haare“, stellt er fest und überprüft umgehend auch seinen ebenso roten Bart. Dann eilt er zurück zum Wäschekorb, den er auf seinem Bett abgestellt hat. Hastig legt er Socken und Unterhosen zusammen. Schiebt sie in den Schrank. Hechtet in die Küche. Schweißperlen glänzen auf seiner Stirn. Ein erster Blick in den Kühlschrank. „Viermal Käse“, murmelt er. „Einmal Marmelade. Einmal Margarine. Viermal Milch. Dreimal Joghurt. Zweimal Quark.“
Jeden Freitag tätigt der Mitarbeiter der Werkstatt Oberscheld allein seinen Wocheneinkauf. 25 Euro Lebensmittelgeld stehen ihm dafür zur Verfügung. Er eilt zwischen Kühlschrank und Wohnzimmertisch hin und her, um Punkte auf der Einkaufsliste zu ergänzen. Diese liest er sich wieder und wieder laut vor. Vergewissert sich mit einem erneuten Blick in den Kühlschrank, ob er nichts vergessen hat. Dann überprüft er die Bestände im Schränkchen daneben. „Knuspermüsli.“ Sagt es, setzt es auf die Liste. „Kaffee. Hmm. Kaffee ist immer so teuer, da muss ich schauen, ob das Geld reicht.“
Aufschreiben ist eine große Hilfe
Einkaufszettel wie diesen schreibt Rainer von der Beck nicht oft. „Meistens merke ich mir alles, was ich brauche“, sagt er. Und fügt hinzu: „Papier kostet schließlich auch Geld.“ Dabei ist das Aufschreiben für ihn eine große Hilfe, um den Alltag weitestgehend allein zu stemmen. So finden sich in seiner Dachgeschosswohnung im Wohnhaus der Lebenshilfe Dillenburg in den Thalen einige von ihm handgeschriebene Anleitungen. „Zwei gestrichene Löffel Kaffee für vier Tassen“ ist da etwa zu lesen. Oder „Kaktus alle 14 Tage gießen“. Darunter sind die Daten notiert, an denen dies zuletzt geschehen ist. Zwei Uhren hängen im Wohnzimmer, zwei Wecker stehen an seinem Bett. „Er hat Schwierigkeiten, mit Zeit und Geld umzugehen, da diese beiden Bereiche etwas sehr Abstraktes sind“, erklärt Andreas Thamer, Wohnbereichsleiter der Lebenshilfe Dillenburg.
Seit 2005 lebt Rainer von der Beck in einer urigen Dachgeschosswohnung, in der er von der Lebenshilfe Dillenburg betreut wird. Betreuung heißt in diesem Fall: so wenig Hilfe wie möglich, so viel Hilfe wie nötig. Rainer von der Beck kommt heute weitestgehend selbstständig zurecht. Vorher lebte er im Lebenshilfe-Wohnheim in Simmersbach. „Seit dem 15. Januar 1997“, wie er noch genau weiß. Seine Eltern leben in Haiger. „Uns tat es gut, ein wenig Verantwortung abzugeben, und Rainer auch“, sagt seine Mutter Ursula von der Beck. „Rainer hat sich sehr positiv entwickelt, vor allem innerhalb der vergangenen zehn Jahre.“
Das Leben mit Rainer war für die von der Becks eine stete Zerreißprobe. „Am Anfang wusste niemand, was mit ihm los ist“, erinnert sich seine Mutter. Nach einer Hirnhautentzündung, vermutlich die Folge einer Tuberkulose-Impfung, die Rainer mit einem halben Jahr hatte, blieb seine Entwicklung stehen. Er sprach nicht, ließ sich nicht anfassen, spielte nicht mit anderen Kindern. „Die Ärzte haben mich für eine überbesorgte Mutter gehalten“, sagt sie. Von Arzt zu Arzt, von Klinik zu Klinik. Bis zum ersten Mal von der Erkrankung Autismus die Rede war, vergingen viele Jahre. „Und niemand hat uns erklärt, was das genau bedeutet. Erst als ich selbst einiges darüber gelesen habe, verstand ich, dass diese Krankheit unheilbar ist. Das war ein großer Schock. Ich hatte Rainer immer versprochen, dass er irgendwann in seiner Entwicklung da ist, wo die anderen auch sind.“ Hinter den von der Becks liegen unruhige Zeiten. Zeiten, die für die Eltern, aber auch für den 20 Monate jüngeren Bruder von Rainer belastend waren. Etwa wenn Rainer beim Mittagessen seine Kauvorgänge zählte: Jeden Bissen zerkaute er exakt 28 Mal im Mund. So dauerte die gemeinsame Mahlzeit zwei Stunden. „Rainer ist so ein netter Kerl, aber er kann einen wirklich wahnsinnig machen. Wir hatten so oft das Gefühl, einfach nicht mehr Luft holen zu können.“
Die Ruhe nach dem Sturm
Heute ist Ruhe eingekehrt – für alle Familienmitglieder. „Das haben wir einem Arzt zu verdanken, dem es schließlich gelungen ist, die passende Medikation für Rainer einzustellen, und der Lebenshilfe, die sich große Mühe mit ihm gibt. Und nicht zuletzt Rainer selbst: Er hat einen großen Willen, etwas dazuzulernen.“ So erfüllt es die von der Becks mit Stolz, wenn sie sehen, was ihr Sohn zu leisten in der Lage ist: Waschen, bügeln, kochen, backen – alles kein Problem. Und eben einkaufen.
Bevor Rainer von der Beck freitags mit seinem Einkaufstrolley aufbricht, kontrolliert er mehrfach, ob er das Licht in seiner Wohnung ausgeschaltet, den Einkaufswagenchip eingesteckt hat und ob sein Schlüsselbund mit dem Karabinerhaken richtig am Hosenbund befestigt ist. Im Supermarkt angekommen, durchquert er die Reihen mit schnellen Schritten. Hält abrupt an, greift in die Regale. Ein, zwei, drei, vier. Hinein in den Einkaufswagen. Vergewissert sich: eins, zwei, drei, vier. Auf jeder Verpackung überprüft er das Mindesthaltbarkeitsdatum. Liest es laut vor. Ebenso den Preis des Produkts. Rechnet. Manche Leute schauen kurz auf. Rainer von der Beck eilt weiter.
So geht es von Reihe zu Reihe, bis er an der Kasse ankommt. Er legt seine Einkäufe aufs Band. Hält kurz inne und schiebt schließlich den Trenner vor seine Schnittkäsepackungen. Für den Fall, dass er mit den 25 Euro doch nicht hinkommt. Als er an der Reihe ist, hebt er den Einkaufstrolley aus dem Wagen, um zu demonstrieren, dass nichts mehr darunter liegt. Auch hält er der Kassiererin das Innere des Trolleys entgegen, ohne dass sie das verlangt hat. „Auch nichts drin“, erläutert er. Dabei stottert er ein wenig. „Alles gut, wie immer!“, entgegnet die Kassiererin lächelnd.