Schnelligkeit und Teamgeist – Rückblick auf ein Jahr Pandemie

Ein Pandemiekonzept entwickeln. Für alle Fälle. Vorbereitet sein auf das, was da kommen könne. Wenn Wohnbereichsleiterin Tanja Rockensüß und Personalreferent Simon Braun an die Zeit vor genau einem Jahr zurückdenken, erinnern sie sich in erster Linie an eine große Unsicherheit. „Keiner konnte damals absehen, was da kommt.“ Was kam, war folgenschwer. Und doch entwickelte die Lebenshilfe Dillenburg aus dieser Zeit heraus eine besondere Stärke – durch Schnelligkeit und Teamgeist.

 „Schnelligkeit zählt. Das ist das, was uns Niederscheld gelehrt hat.“ Niederscheld. An diese Zeit denkt niemand bei der Lebenshilfe Dillenburg gern zurück. Es war März 2020, als sich in der stationären Wohneinrichtung im Dillenburger Ortsteil zehn Menschen mit Behinderung und 16 hauptamtliche Beschäftigte mit dem Corona-Virus infizieren. Drei der Bewohner verstarben im April.

Ein Ereignis, das bei all seiner Tragik aber auch wegweisend war. Denn der Verein rückte bereichsübergreifend noch näher zusammen. So erklärten sich Mitarbeiter aus anderen Einrichtungen bereit, im Wohnheim Niederscheld auszuhelfen – in einer fremden Einrichtung mit ihnen fremden Klienten. Und das, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch niemand vorhersagen konnte, welche langfristigen Folgen eine Infektion mit dem neuen Virus mit sich bringen kann.

Die Corona-Krise bringt die Lebenshilfe-Bereiche näher zusammen: Julia Ebertz-Sanchez (l.), Miriam Kollmar (2.v.l.) und Manuela Schober-Hahn (2.v.r.) (alle Interdisziplinäre Frühförderstelle) haben aushilfsweise gemeinsam mit Lisa Bombe (Mitte) und Sabrina Wagner (Gruppenleitung Werkstatt Flammersbach) in der Werkstatt Flammersbach gearbeitet.

Darüber hinaus unterstützten Mitarbeiter anderer Bereiche etwa die Werkstätten, um nach deren Schließung die Produktion am Laufen zu halten. „Es war eine Zeit der Improvisation, aber auch eine des Teamgeists“, so Rockensüß. Offizielle Verordnungen von Seiten des Landes gab es damals noch nicht. „Es war purer Zufall, dass wir drei Tage vor dem Ausbruch im Wohnheim Schutzausrüstung gekauft hatten“, erzählt Rockensüß. FFP2-Masken damals für 18,90 Euro das Stück. Selbst heute ist es noch so, dass der Verein die umfangreiche Anschaffung von Schutz- und Hygienematerialien sowie die Durchführung zusätzlicher Desinfektionsmaßnahmen in größten Teilen selbst tragen muss.

Auch erhöhte Personalkosten stehen bei der Lebenshilfe Dillenburg zu Buche. „Wir haben zusätzliche personelle Ressourcen geschaffen, um die wöchentlichen Testungen in unseren besonderen Wohnformen zu unterstützen“, merkt Personalreferent Simon Braun an und fügt hinzu: „Wir in der Eingliederungshilfe sind nach wie vor Einzelkämpfer im Pandemiegeschehen.“ Braun ist neben Rockensüß und den beiden Vorstandsmitgliedern Dirk Botzon und Dr. Oliver Schmitzer sowie Lars Lückoff (Leitung der Werkstatt Dillenburg und stellv. Bereichsleitung Dillenburger Werkstätten) und Karin Schill (Leitung Sozialer Dienst) Mitglied im Krisenstab. In diesem Gremium wird organisiert und koordiniert. „Und es wird agiert statt nur reagiert“, sagt Rockensüß. Das habe sich in den vergangenen Monaten bewährt. „Wir lernen aus jeder Situation etwas Neues und setzen das um. So passen wir ständig unsere Strategien an. Natürlich kann es sein, dass uns das nicht immer gelingt, aber in 90 Prozent der Fälle tut es das.“

Der Krisenstab der Lebenshilfe Dillenburg mit (v.l.) Simon Braun, Karin Schill, Dirk Botzon, Dr. Oliver Schmitzer, Tanja Rockensüß und Lars Lückoff steht in regelmäßigem Austausch.

Was bei allen Entscheidungen maßgeblich war und ist: der größtmögliche Schutz, aber auch die größtmögliche Freiheit für die von der Lebenshilfe betreuten Menschen. Bedeutet zum einen: frühzeitige Kooperationen mit regionalen Praxen zur PCR-Testung bei Verdachtsfällen, konsequenter Einsatz von FFP2-Masken – bereits seit Pandemiebeginn durch alle Beschäftigten in allen Bereichen (für die Kita wurden besondere Empfehlungen des Landes Hessen umgesetzt) und seit Anfang September auch für die Betreuten in den Werkstätten – , wöchentliche Schnelltests in den besonderen Wohnformen mit der zusätzlichen Möglichkeit zu anlassbezogenen Tests in allen anderen Einrichtungen, die Gewährleistung einer schnellen Nachvollziehbarkeit der Kontaktpersonen durch vorbereitete Nachverfolgungslisten sowie eine gut funktionierende Netzwerkarbeit.

Bedeutet aber auch zum anderen: Im Unterschied zu Altenpflegeeinrichtungen sind aktuell mehr Besuche der Angehörigen möglich – ohne Schnelltest, aber mit FFP2- oder OP-Maskenpflicht. Auch ist es den Bewohnern erlaubt, das Wochenende bei ihren Angehörigen zu verbringen. „Wir sehen neben der Gefahr, körperlich durch das Virus zu erkranken, nämlich auch die Gefahr für die Psyche, gerade bei den von uns betreuten Menschen“, erklärt Rockensüß. Vielen Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen fällt es schwer, die Tragweite des Virus und die damit verbundenen Einschränkungen nachzuvollziehen. Die psychischen Reaktionen darauf reichen laut Rockensüß bereits jetzt von absolutem Rückzug bis hin zu aggressiven Durchbrüchen.

Im Laufe der Pandemie gab es zwar immer wieder einzelne positive Fälle, doch durch das angewandte Schutzkonzept war nach dem schweren Infektionsgeschehen im März 2020 nie mehr eine gesamte Gruppe innerhalb einer Einrichtung betroffen. „Das funktioniert aber auch nur, weil alle Bereiche der Lebenshilfe so gut zusammenarbeiten“, betont Rockensüß. „Die Mitarbeiter setzen die Hygiene- und Schutzmaßnahmen in vorbildlicher Weise um. Durch das tägliche Engagement jedes und jeder Einzelnen haben wir es bisher geschafft, die Menschen, die wir begleiten, gut durch diese Krise zu bringen.“