Bundesverdienstkreuz für Jürgen Raab

40 Jahre im Vorstand und Aufsichtsrat Lebenshilfe Dillenburg enden für Jürgen Raab, den ehemaligen Leiter der Theodor-Heuss-Schule Wetzlar. Am 16. September wird der Driedorfer offiziell in der Herborner Kulturscheune verabschiedet und erhält für sein außerordentliches Engagement von Landrat Wolfgang Schuster das Bundesverdienstkreuz.

Herr Raab, bald schon sind Sie Bundesverdienstkreuzträger. Wie fühlt sich das an?

Jürgen Raab: Diese Auszeichnung ist etwas Besonderes für mich. Ich fühle mich stolz und geehrt, weiß aber auch, dass dahinter vor allem die Zusammenarbeit mit vielen guten Leuten in der Lebenshilfe steht. Insofern sehe ich in dem Bundesverdienstkreuz auch eine Würdigung der gesamten Lebenshilfe Dillenburg. Ich fühlte mich nicht als der Alleinentscheider im Vordergrund, sondern eher als derjenige, der Entscheidungen gemeinsam vorbereitet, diskutiert und möglichst im Konsens trifft. Der Mann fürs Strategische, der im Blick hatte, wie sich die Lebenshilfe in den nächsten fünf Jahren entwickeln soll. Ich sehe mich nicht so sehr als den Macher, sondern eher den Möglichmacher.

1981 wurden Sie Mitglied in der Lebenshilfe Dillenburg, bereits ein Jahr später Vorstandsmitglied. Wie kam es dazu?

Jürgen Raab: Ausgangspunkt war die Geburt unseres Sohnes Sebastian, der mit dem Down-Syndrom auf die Welt kam. Wir wollten, dass er so normal wie möglich aufwächst und gleichzeitig so viel Hilfe wie nötig bekommt. Um das mitzugestalten, bin ich 1981 Mitglied geworden und dann ein Jahr später Teil des Vorstands geworden.

Wenn Sie die Lebenshilfe von damals mit der von heute unterscheiden – was sticht da besonders ins Auge?

Jürgen Raab: Zunächst einmal schon die Größe der Lebenshilfe Dillenburg. Damals waren es 42 Angestellte. Heute beschäftigen wir über 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Was mich besonders freut, sind die Entwicklungen im Werkstatt- und im Wohnbereich. Als ich zur Lebenshilfe kam, wurde darüber diskutiert, den Holz- und Textilbereich auszubauen. Wir haben es aber geschafft, entsprechend unserer regionalen Wirtschaftsstruktur ein professioneller industrieller Dienstleister zu werden. Aufgrund der Altersstruktur unserer Menschen mit Behinderungen und deren Angehörigen war damals auch das Angebot an Wohnformen für uns völliges Neuland. Von der ersten anfänglichen Wohneinheit bis hin zu vielseitigen Wohnmöglichkeiten – an vielen Standorten und je nach individuellem Betreuungsbedarf – war es ein weiter aber sehr erfolgreicher Weg. Normal ist, dass jeder verschieden ist und deshalb unterschiedliche Arbeits- und Wohnmöglichkeiten braucht. Das konnten wir im Laufe der Jahre umsetzen.

Wie hat sich der Weg dorthin gestaltet?

Jürgen Raab: Die Gründungsgeneration der Lebenshilfe Dillenburg war noch geprägt von den schlimmen Erfahrungen im Nationalsozialismus mit dem vorrangigen Ziel, ihre Kinder zu schützen. Ich kam als Teil der Folgegeneration dazu. Hier wurden bereits unter dem Motto „so normal wie möglich und nur so viel Hilfe wie nötig“ Aspekte wie Förderung und Integration wichtig. „Von der Wiege bis zur Bahre“ – das war der von der Lebenshilfe Dillenburg schon in den 80er Jahren formulierte Anspruch unserer Arbeit. Meine Aufgabe war es daher immer, diesen Anspruch möglichst gut umzusetzen, durch die Entwicklung der Frühförderung, der integrativen Kindergartenarbeit, der Weiterentwicklung des Berufsbildungsbereichs, der Werkstätten, der Wohnformen, des Familienentlastenden Dienstes und besonderer Angebote für ältere Menschen mit Behinderungen bis hin zur palliativen Betreuung im letzten Lebensabschnitt. Sehr hilfreich war es, dass wir stets von vielen Seiten große materielle und ideelle Unterstützung erfahren haben. Ob von Seiten der heimischen Betriebe oder auch von unseren Kommunen oder Privatpersonen.

Was gestaltete sich dagegen schwierig?

Jürgen Raab: Eine große Herausforderung war im Zuge der Umstrukturierung der Organisation, die Rechtsform des eingetragenen Vereins anstelle einer gGmbH zu halten. Von da an gab es einen hauptamtlichen Vorstand und einen ehrenamtlichen Aufsichtsrat, den ich ab 2011 als Vorsitzender anführte. Die grundlegende Idee der Selbsthilfeorganisation als Verein war mir wichtig. Ebenso aber auch die bestmögliche Bezahlung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Daher waren Tarifrecht und Zusatzversorgungskasse für unsere Beschäftigten für mich unumstößlich. Frühere Geschäftsführer und Vorstände wie Eugen Enseroth, Rainer Pliska und Marita Wickel haben stark dazu beigetragen, durch kluges und vorausschauendes Wirtschaften und eine gute betriebswirtschaftliche Organisation eine sichere finanzielle Grundlage zu schaffen.

Sie sprachen eben von Strategien für die nächsten fünf Jahre. Was wird die Lebenshilfe Dillenburg in den ersten fünf Jahren ohne Jürgen Raab beschäftigen?

Jürgen Raab: Der pflegerische Aufwand wird durch die Altersstruktur eine immer wesentlichere Rolle spielen. Wir als Lebenshilfe haben den Anspruch, Menschen mit Behinderung ein Leben lang zu begleiten. Dazu braucht es aber von der Politik entsprechende rechtliche und finanzielle Strukturen.

Von der Lebenshilfe erhoffe ich mir proaktive Hilfe in Sachen vorgeburtlicher Diagnostik. Ich sehe eine große Gefahr in unserer Gesellschaft, nämlich dass Vielfalt irgendwann gänzlich verschwindet. In der kurzen Phase zwischen Diagnose und der Entscheidung der Mutter für oder gegen eine Abtreibung ist die Lebenshilfe gefordert, zu informieren und zu unterstützen.

Sorge macht mir auch die Diskussion um eine mögliche Triage bei der medizinischen Versorgung in Krisenzeiten. Jedes Leben ist gleichwertig. Menschen mit Behinderung dürfen nie mehr als minderwertig oder nicht nützlich angesehen werden. Sollte für oder gegen ein Menschenleben entschieden werden müssen, dann gibt es für mich als einzige Lösung das Losverfahren.

Wenn Sie von der Lebenshilfe Dillenburg sprechen, sprechen Sie oft noch von „wir“. Wie schwer wird der Abschied für Sie?

Jürgen Raab: Das „Wir“ wird vermutlich auch immer so bleiben, denn die Lebenshilfe Dillenburg war ein entscheidender Teil meines Lebens. Ich habe viel Arbeit hineingesteckt, habe aber auch immer sehr viel zurückbekommen. Der Gedanke an den Abschied sorgt bei mir für gemischte Gefühle. Ich freue mich darauf, weiß aber auch, dass das dann wirklich zu Ende ist und mir was fehlen wird.