Luisa lehrt Gelassenheit und Leichtigkeit

Neun von zehn Kindern mit Down-Syndrom werden mittlerweile abgetrieben. Eine Statistik, die Martina Weihl aus Niederscheld bestürzt. Denn sie und ihr Mann Harry haben sich bewusst dafür entschieden, Pflegekinder mit Behinderung in ihrer Familie aufzunehmen. Eins davon: Luisa.
Schüchtern blickt Luisa zu Boden und schiebt verlegen eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. So haben Martina und Harry Weihl vor 17 Jahren das damals elfjährige Mädchen kennengelernt. Ruhig, leise, zurückhaltend. Doch sobald sie sich wohl und sicher fühlt, taut sie auf und zeigt all ihre Stärken. Allem voran: ihr feiner Sinn für Humor und ihr ansteckendes Lachen.
„Für uns hat es nie eine Rolle gespielt, ob Luisa das Down-Syndrom hat oder nicht“, sagt Martina Weihl. Die hohe Abtreibungsquote und der Pränataltest als Kassenleistung sind für sie ein Zeichen der zunehmenden Leistungsgesellschaft. „Alles muss schön und perfekt sein.“

Die 61-Jährige gibt mit ihrem 65-jährigen Ehemann seit 36 Jahren Pflegekindern ein Zuhause, 20 Jahre davon Pflegekindern mit Beeinträchtigung. „Wir wollten immer viele Kinder haben“, erklärt sie. Dieser Wunsch wurde früh von einer ärztlichen Diagnose in Frage gestellt: Die Wahrscheinlichkeit, eigene Kinder zu bekommen, sei sehr gering, hieß es damals. „Das haben wir dann als Zeichen von oben gesehen, Kinder anzunehmen, die nicht unsere eigenen sind.“ Also bewarben sich die Krankenpflegerin und der Altenpfleger als Adoptiveltern. Doch das Schicksal hatte einen anderen Plan. Denn Martina Weihl wurde entgegen aller Prognosen schwanger. Mit 23 Jahren bekam sie ihre erste leibliche Tochter. Die Weihls zogen daraufhin ihre Adoptionsanfrage zurück. Stattdessen widmeten sie sich der Aufgabe, Pflegekinder aufzunehmen. Zunächst in der Tagespflege, dann in der Dauerpflege. Der Anfang von etwas Großem:
Drei mittlerweile erwachsene leibliche Kinder. Neun Pflegekinder, von denen aktuell noch drei im Hause Weihl leben. Und das 15. Enkelkind ist bereits unterwegs. Die Weihls haben sich den Traum von der Großfamilie verwirklicht. Eine nicht immer leichte Aufgabe. „Mitunter war es ein echter Kraftakt“, bestätigt Martina Weihl. So wurde etwa das erste Pflegekind nach zwei Jahren zur Mutter rückgeführt – vor allem für Weihls älteste Tochter eine emotionale Katastrophe, da die beiden wie Geschwister aufgewachsen waren. „In dem Moment war uns klar, dass wir nur noch Pflegekinder mit Aussicht auf eine dauerhafte Unterbringung bei uns aufnehmen würden.“ Eins davon war aufgrund seiner Borderline-Persönlichkeitsstörung und der damit einhergehenden extremen Impulsivität eine ständige Herausforderung für die gesamte Familie.

Durch die zertifizierte Weiterbildung des St. Elisabethvereins hatten sich die Weihls „auf Herz und Nieren prüfen“ und auch auf herausfordernde Fälle vorbereiten lassen. Da sowohl Martina Weihl als auch Harry Weihl im Wohnhaus der Lebenshilfe Dillenburg in Niederscheld gearbeitet haben, gab es zu Menschen mit Behinderung keinerlei Berührungsängste. „Vielleicht sind wir einfach prädestiniert dafür, diese Menschen bei uns aufzunehmen“, so Martina Weihl.

So leben in ihrem Haushalt aktuell Autistin Conny, der schwerstmehrfachbehinderte Felix und eben Luisa. Mit Down-Syndrom. „Ich bleibe hier wohnen, bis ich 100 bin“, sagt sie. Denn hier hat sie alles, was sie liebt. Ihre Familie, ihre Hunde, ihr Trampolin, ihren Pool. Luisas leiblicher Vater ist ihr gesetzlicher Betreuer und steht in einem guten und wertschätzenden Verhältnis zu den Pflegeeltern. Um ihren Alltag zu bewältigen, braucht Luisa klare Vorgaben und Routinen – manchmal auch bei vermeintlichen Banalitäten wie der Nutzung von Shampoo.
Unterstützt werden Luisa und ihre Pflegeeltern von der Lebenshilfe Dillenburg. Tagsüber arbeitet sie in der Lebenshilfe-Werkstatt in Oberscheld. Dort bescheinigt ihr die Gruppenleitung eine enorme Entwicklung. Das zeigt sich unter anderem an den anspruchsvolleren, maschinellen Tätigkeiten, die sie mittlerweile in der Produktion übernimmt, aber auch an ihrer Teilnahme am „Schichtwechsel“-Projekt der Dillenburger Werkstätten: Dabei arbeitete Luisa einen Tag in einem Friseursalon mit und zeigte im Gegenzug der Friseurinhaberin einen Tag lang ihren Arbeitsplatz.

Darüber hinaus unterstützt und entlastet die Lebenshilfe Familien wie die Weihls auch über das sogenannte Betreute Wohnen in Familien. Das Betreute Wohnen in Familien ist eine Form der Unterstützung für Menschen mit besonderem Betreuungsbedarf, bei der sie in privaten Haushalten untergebracht werden und dort Betreuung und Pflege erhalten. Eine Mitarbeiterin der Lebenshilfe Dillenburg kommt regelmäßig und begleitet Luisa etwa bei Arztbesuchen oder geht mit ihr ins Kino oder schwimmen. „Die Unterstützung der Lebenshilfe ist für uns sehr wertvoll“, sagt Martina Weihl. „Denn so geraten wir in den Austausch und bekommen auch einen pädagogischen Blick von außen auf Luisa und ihre Entwicklung.“ Aktuell begleitet die Lebenshilfe Dillenburg vier erwachsene Menschen mit Behinderung in Familien. Eine Leistung, die vom Landeswohlfahrtsverband finanziell getragen wird.

Luisa hat bei der Familie Weihl Stabilität und Geborgenheit gefunden – „und die nötige Portion Humor und Liebe, die es braucht“, wie Martina Weihl betont. „Wer Pflegekinder wie Luisa aufnimmt, darf keine romantisch-verklärte Vorstellung haben und muss auch mal Fünfe gerade sein lassen. Aber es ist eine tolle Aufgabe, weil Luisa einfach ein tolles Mädchen ist. Durch ihre Art lehrt sie mich immer wieder etwas sehr Wertvolles: Gelassenheit und Leichtigkeit.“