“Beschützte Eigenständigkeit – die müssen wir anstreben”

Nach fast 36 Dienstjahren ist Marita Wickel Ende vergangenen Jahres als Vorstand der Lebenshilfe Dillenburg in den Ruhestand verabschiedet worden. Ihre Nachfolge hat der 38-jährige Dr. Oliver Schmitzer angetreten. Sein großes Ziel für die Zukunft: Menschen mit Behinderungen verstärkt den Weg in eine „beschützte Eigenständigkeit“ zu ermöglichen.

Herr Dr. Schmitzer, Sie stammen eigentlich aus einer ganz anderen beruflichen Branche. Was hat für Sie den Reiz ausgemacht, sich dieser neuen Aufgabe bei der Lebenshilfe Dillenburg zu stellen?

Dr. Oliver Schmitzer:  2015 habe ich im Rahmen eines Führungskräfteprogramms meines vorherigen Arbeitgebers ein einwöchiges Praktikum in der Integrativen Kindertagesstätte der Lebenshilfe Dillenburg in Burg absolviert. In dieser Zeit ist etwas in mir erwacht, das lange geschlummert hat. Vielleicht sogar seit meinem Zivildienst, den ich beim Paritätischen Wohlfahrtsverband in Mannheim geleistet habe. Zeit mit und für Menschen – das ist es, was mich gereizt hat: Der Mensch steht bei der Lebenshilfe Dillenburg im Vordergrund. Sowohl der Mensch mit als auch der Mensch ohne Behinderung. Und ich habe mich gefragt: Wenn nicht jetzt, wann dann? Mein persönliches Umfeld hat zu dieser Entscheidung auch mit beigetragen – und damit zu dem Umzug von Wiesbaden nach Burbach und zum Antritt der neuen Stelle.

Seit einem Dreivierteljahr sind Sie nun bei der Lebenshilfe Dillenburg beschäftigt. Gibt es Momente, die Ihnen in dieser Zeit besonders nachhaltig im Gedächtnis geblieben sind?

Schmitzer: Oh ja, sogar einige (lacht). So sind mir etwa gleich bei der ersten Begegnung ein Bewohner des Wohnheims Manderbach und ein Mitarbeiter der Werkstatt Eibelshausen um den Hals gefallen. Einfach so. Das ist es, was man hier erlebt. Schöne und berührende Momente mit Menschen, die offen, direkt und ehrlich sind. Das gefällt mir, denn das sind Eigenschaften, die auch mich als Menschen ausmachen.

Was macht den Menschen Dr. Oliver Schmitzer noch aus?

Schmitzer: Ich bin ein absoluter Familienmensch. Meine Frau und ich haben gerade unser drittes Kind bekommen. Ich liebe die Natur und bin gern draußen – oft auch mit unserem Hund. In unserem neuen Wohnort haben wir den Wald direkt vor der Haustür. Das schätze ich sehr.

Was hat Sie überrascht, als Sie die ersten tieferen Einblicke in die Arbeit der Lebenshilfe Dillenburg erhalten haben?

Schmitzer: Ich war überrascht darüber, wie industriell unsere Werkstätten aufgestellt sind. Das, was dort produziert ist, ist weit entfernt vom Klischee der Besen und Bürsten, die in Werkstätten für behinderte Menschen gefertigt werden. Wir sind vielmehr ein professioneller Automobilzulieferer und damit ein etablierter Teil in der Supply-Chain. Und nicht nur das: Ich habe selten so fröhliche und motivierte Mitarbeiter erlebt wie hier, und das gilt gleichermaßen für die Menschen, die wir hier betreuen, als auch für unsere hauptamtlichen Mitarbeiter.

Wo steht die Lebenshilfe Dillenburg zum jetzigen Zeitpunkt?

Schmitzer: Hier ist strukturell bereits all das vorhanden, was man in Abläufen und Organisation auch aus der klassischen Industrie kennt. Und es funktioniert sehr gut. Dennoch gibt es natürlich immer ein paar Dinge, die man besser machen kann. Nur muss man bei der Lebenshilfe Dillenburg nicht das große Rad drehen. Vielmehr sind es nur kleine Rädchen, die man drehen kann und mit denen man dann andere kleine Rädchen in Bewegung setzt.

Wo soll die Reise im Optimalfall hinführen, wenn dann diese kleinen Rädchen gedreht wurden?

Schmitzer: Ich bin ein Befürworter der Inklusion. Daher muss eines unserer großen Ziele sein, unseren Betreuten die größtmögliche Eigenständigkeit zu bieten, dabei aber gleichzeitig nicht ihr Schutzbedürfnis zu vernachlässigen. Eine Art beschützte Eigenständigkeit – die müssen wir anstreben.

Dass die Einführung des neuen Bundesteilhabegesetzes Ziele wie diese im Keim ersticken oder zumindest erschweren könnte, wurde bereits von einigen Verbänden der Behindertenhilfe befürchtet.

Schmitzer: Mit der Neuregelung von Vermögen und Einkommen behinderter Menschen ist bereits die erste Stufe des neuen Gesetzes Anfang des Jahres in Kraft getreten, und bislang können wir dazu nur sagen, dass eine Panikmache völlig unbegründet ist. Wir sind offenen Auges in mögliche Änderungen hineingegangen und waren daher gut vorbereitet. So werden wir es auch weiter handhaben und können damit kommenden Herausforderungen gelassen begegnen.

2017 ist für die Lebenshilfe Dillenburg ein besonderes Jahr: Im Frühjahr wird das neue Wohnheim in Haiger fertiggestellt und in Betrieb genommen. Warum ist das Ereignis so bedeutsam?

Schmitzer: Weil es vor allem Entlastung bedeutet. Wir haben eine sehr lange Warteliste mit Menschen mit Behinderungen, die auf einen Platz im Wohnheim warten, und können so zumindest einen Teil des großen Bedarfs mit 20 Dauer- und drei Kurzzeitplätzen abdecken. Darüber hinaus wird es das Angebot der sogenannten Tagesstruktur für Menschen, die noch zu Hause leben, geben. Wir sind sehr glücklich, dass dieses Projekt nun auf der Zielgeraden ist. Konzeptionell neu dabei: Wir werden dort vor allem junge Menschen betreuen, die zum ersten Mal von Zu Hause wegziehen, sowie Menschen mit herausforderndem Verhalten.

Gutes Gelingen dabei und vielen Dank für das Gespräch.