Hans Salmen ist “ein bisschen anders”

Als Hans Salmen im Juni 1957 auf die Welt kommt, spürt seine Mutter Annegret, dass er „ein bisschen anders“ ist. Erst nach einem halben Jahr erfährt die damals 17-Jährige: Ihr Junge hat einen Chromosomendefekt. Down-Syndrom. Heute werden neun von zehn Kindern mit dieser Behinderung abgetrieben. Eine Statistik, die Annegret Salmen bestürzt: „Selbst wenn es damals schon die medizinischen Möglichkeiten von heute gegeben hätte – ich würde immer wieder Ja zu Hans sagen.“

Annegret Salmen ist heute 79 Jahre alt. Vor neun Jahren starb ihr Mann. Seitdem kümmert sie sich zu Hause allein um ihren erwachsenen Sohn. Ein Platz für ihn in einem Wohnheim war für sie nie eine Option. „Wichtig ist, dass der Mensch eine Aufgabe hat, und meine Aufgabe ist es, für Hans da zu sein. Ich bete, dass ich auch weiterhin die Kraft dazu habe.“ Ihr 61-jähriger Sohn ist zunehmend auf Hilfe angewiesen. „In den vergangenen anderthalb Jahren hat er körperlich sehr abgebaut“, sagt seine Mutter. Sie hilft ihm beim Anziehen und Waschen, ein Treppenlift beim Erklimmen der beschwerlichen Stufen.

„Hänschen“ und „Mütterlein“, wie sie sich gegenseitig nennen, sind ein eingespieltes Team. Ein Team, das Lebensfreude und Gelassenheit ausstrahlt. Abends schauen sie gemeinsam fern, gern „Western mit John Wayne“, wie Hans erzählt. Oder sie hören Musik. Kastelruther Spatzen, Heino, Heintje. Gemeinsamer Geschmack, gemeinsame Glücksmomente. Doch gerade das Glück war der Familie nicht immer hold.

1991 starb Hans‘ jüngerer Bruder bei einem Autounfall, vor 15 Jahren erkrankte seine jüngere Schwester an Multipler Sklerose. „Ich weiß nicht, wie ich das ohne Hans alles durchgestanden hätte“, blickt Annegret Salmen zurück. „Seine bedingungslose Liebe hat mich immer wieder aufgefangen. Wenn abends meine Tränen liefen, war Hans zur Stelle. Entweder mit einer Umarmung, einem Kuss oder einem Taschentuch. Und das ist bis heute so. Wenn ich nur mal seufze, fragt er gleich: Mütterlein, ist was?“

“Das ist schon schade, wenn man ein Kind hat, das blöd ist”

Hans sei ein Gottesgeschenk. Das weiß die Haigerseelbacherin jetzt. Damals als sie zum ersten Mal mit seiner Behinderung konfrontiert wurde, war das alles ein Schock. In den ersten Monaten hatte sie Hans häufig im Kinderwagen spazieren gefahren. Eines Tages warf eine Nachbarin einen Blick auf den Jungen und sagte: „Das ist schon schade, wenn man ein Kind hat, das blöd ist.“ Diesen Moment hat Hans‘ Mutter nie vergessen. „Ich habe gedacht, der Boden tut sich auf. Ich bin nur noch mit Hans ins Haus gestürmt und habe geheult.“

Sie erzählte dem Hausarzt von der Begegnung mit der Nachbarin und bohrte nach: „Was ist mit meinem Jungen?“
„Oh, oh, oh, das Wort ,blöd‘ möchte ich erst einmal streichen“, betonte dieser. Dann erklärte er der jungen Mutter, was es mit Hans‘ Erkrankung auf sich habe. Eine Chromosomverschiebung, das 21. Chromosom tauche zweimal auf, normalerweise passiere das eher bei Spätgebärenden. Nein, das Zustandekommen dieses Defekts habe ganz sicher nichts mit der Unterernährung von Hans‘ Vater in russischer Kriegsgefangenschaft zu tun. Typische Anzeichen der Behinderungen seien die Handfalte und die schräge Augenstellung. Häufig komme leider auch ein Herzfehler dazu.

„Was soll nur werden? Diese Frage habe ich mir immer wieder gestellt. Wie entwickelt sich Hans? Schaffe ich das überhaupt? Damals war mein Glaube noch nicht so gefestigt wie heute. Damals habe ich mich wirklich gefragt, warum ausgerechnet ich ein behindertes Kind bekommen musste.“ Heute noch hat Annegret Salmen die Worte ihres Vaters im Ohr: „Nimm es einfach aus Gottes Hand. Er wird seine Gründe haben, dir das zuzutrauen.“

Entwicklung verläuft Schritt für Schritt

Es sei ein Prozess gewesen, in den sie erst hineinwachsen musste, erzählt sie. „Aber Hans hat es mir leicht gemacht. Immer wenn ich an seinem Bettchen stand, strahlte er mich an.“ Ein Herzfehler wurde bei dem Jungen nicht festgestellt. Er war nur anfälliger für Infekte als andere Kinder. Und deutlich langsamer in der Entwicklung. Mit anderthalb Jahren begann er endlich zu laufen– aber nur, weil seine Mutter in die Trickkiste griff: So platzierte sie bunte Klötzchen so, dass Hans sich in Bewegung setzen musste, um sie zu erreichen. „Hans liebte alles, was bunt ist. Dann begann er immer ganz aufgeregt zu wippen“, erinnert sie sich. Irgendwann setzte er tatsächlich einen Fuß vor den anderen. Zwei kleine Schritte zunächst, die für seine Mutter ein wahres Erfolgserlebnis bedeuteten. Jeden Tag kam dann ein weiter Schritt hinzu. Mit zwei Jahren begann er einzelne Worte zu sprechen. „Allerdings war ich die Einzige, die ihn verstehen konnte. Ich hatte allerdings auch den Fehler begangen, mit ihm auf Platt zu sprechen.“

Ab 1966 besuchte Hans den sogenannten Sonderkindergarten der Lebenshilfe Dillenburg. „Eine schöne Zeit“, wie seine Mutter sagt. Hans malte und spielte gern. Später besuchte er die damals gegenüberliegende Sonderschule. Dort lernte er bald, seinen Namen in Druckbuchstaben zu schreiben. „Doch irgendwann sagte man uns bei einem Elternabend, dass es medizinisch erwiesen sei, dass man Kindern mit dieser Behinderung zwar das Schreiben beibringen könne, nie aber das Lesen. Von da an wurde das Lernen in dieser Form leider eingestellt.“ Stattdessen setzte die Schule den Schwerpunkt auf handwerkliche Arbeiten. Mit 17 besuchte Hans dann die erste Lebenshilfe-Werkstatt in Dillenburg. „Erstmals war er bis nachmittags von zu Hause weg, da hatte er viel Heimweh, aber nach einer Weile ging er sehr gern dorthin.“  Die Lebenshilfe Dillenburg wurde größer, weitere Einrichtungen kamen hinzu. Hans arbeitete in der Werkstatt in Eibelshausen, bevor er schließlich nach Flammersbach wechselte, wo er auch heute noch beschäftigt ist.

Das Leben mit einem Kind mit Down-Syndrom – nicht immer leicht, „aber ich habe es nie bereut. Im Gegenteil. Wir machen das schon ganz gut, oder, Hänschen?“ – „Enjoa, Mütterlein.“  Hans lacht schelmisch und drückt seiner Mutter einen Kuss auf die Wange.